Gabriele Napierata
Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Wind im Nebel


Gabriele Napierata
Burgenmacht by Gabriele Napierata. Illustration aus Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Wind im Nebel.

©2014

Gabriele Napierata
Von Wechselbälgern und Wölfen in Schafspelzen by Gabriele Napierata. Illustration aus Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Wind im Nebel.

©2014

Gabriele Napierata
Die Flüchtlinge by Gabriele Napierata. Illustration aus Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Wind im Nebel.

©2014






Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Nebel im Wind

Auszüge:

 

Die unebenen Steine des Gemäuers fühlten sich unter ihren Fingern feucht und glitschig an. Placken von Moosflechten schienen sich auf den nur grob bearbeiteten Steinen und in ihren unregelmäßigen Ritzen niedergelassen zu haben. Das Moos, deren Farbe sie im Nebel nicht sehen konnte, war von der Feuchtigkeit des Nebels vollgesogen und fühlte sich nass und schwammig an. Sie drückte spaßeshalber mit einer Hand auf die Flechten, verstärkte den Druck ihrer Handfläche auf dem Moos und hörte wie das Wasser an der Wand herunterzurinnen begann. Der Erdgeruch von verfaulenden Pilzen stieg ihr in die Nase.

 

Sie konnte sie nicht sehen, doch sie spürte sie. Nach dem Weichen der Nässe aus dem Moos bemerkte sie ein anhaltendes Kribbeln und Krabbeln auf ihrer noch nassen Haut. Entsetzt zog ihre Hand fort. Die Eigentümer dieser sehr eigenen Welt, aus der sie so rücksichtslos die Lebensgrundlage gedrückt hatte, schienen nach ihrer Einmischung in den Mikrokosmus ihre jetzige Behausung als unbewohnbar zu empfinden und allesamt auf einmal umziehen zu wollen.

 

 

                                                       -----------------------------

 

 

Es war noch nicht lange hell. Tau lag in der Luft, auf den Grashalmen der Parkanlage, auf den Blumen in den Rabatten, auf Metall und Stein. Es versprach ein schöner Tag zu werden, so riefen es jedenfalls die Amseln auf den von ihnen besetzten Dachfirsten zu. Auch die Tauben konnten das Gurren nicht lassen und priesen den jungen Morgen. Ein leichter Wind trieb sich umher und fuhr raschelnd zwischen die Blätter. Die Welt regte sich. Frühaufsteher waren längst unterwegs - nur die Faulen lagen noch in ihren Betten.

 

Jugend bedeutet Unrast, den Drang zu entdecken, Provokation. Das Leben schmeckte im zarten Alter besonders süß. Es schienen keine Grenzen zu existieren und wenn doch, so setzte man sich eben darüber hinweg - alles musste getestet und ausgekostet werden -, auch wenn das nur heimlich geschehen konnte. Nur die Gegenwart zählte. Vergangenheit, was war das noch?

 

Die zwei Mädchen und drei Jungen saßen auf dem breiten Rand des imposanten Brunnens unmittelbar vor der kleinen Schule in dem kleinen grauen Ort, der irgendwo in Englands ehemaligen Erzfördergebieten lag und der als einziges Überbleibsel ganz bewusst noch an eine dunkle Zeit der Ausbeutung zu erinnern versuchte. Jenes Unterfangen bezüglich der Geschichte Englands schien vergebliche Liebesmühe zu sein, denn dieser Brunnen wurde schon lange nicht mehr von allen bemerkt, obwohl er doch zweifelsfrei nach wie vor seinen angestammten Platz beanspruchte. Und so ließen diese Mädchen und Jungen in grober Selbstverständlichkeit ihre Beine von dem Brunnenrand baumeln, nahmen nicht einmal mehr die Skulptur aus Gusseisen in seinem Inneren wahr, sahen nicht die schwarze eiserne Lore mit dem kleinen Pony davor, welches das schwere Gefährt schon seit einer halben Ewigkeit zog, sahen auch nicht die abgezehrten Gestalten, die kleinen Kinder, die in eiserne Lumpen gekleidet den Kippkarren anschoben, sahen nicht den Rost, an der aufwendig gestalteten Skulptur und sahen auch nicht den Taubendreck auf ihr, weil dieses Bild zu ihrem Alltag, ihrem Leben gehörte, längst seinen Platz in ihren Gehirnen eingenommen hatte und keine neuerlichen, kritischen Gedanken mehr entstehen ließ.

 

Die wenigsten Kinder gingen gerne zur Schule. Meistens verstärkte sich die Abneigung noch mit zunehmendem Alter. Gerade wenn man zwischen Kinderzeit und Jugend noch festhing, hatten diese Zwitterwesen es bekanntlich besonders schwer.

 

 

... und noch ein Stückchen aus meinem Buch:

       

                                       ------------------------

 

Eine protzige, geschwungene Treppe, scheinbar aus Eisen geschmiedet, dann weiß getüncht, verband das Erdgeschoss mit dem ersten Stock und führte hinauf zu der Galerie, die sich auf der rechten Seite im oberen Bereich des Saales einmal der Länge nach durch den ganzen Raum zog. Die hohen Wände waren wie in einer Klinik weiß gestrichen, schwarz-weiße Fließen auf dem Boden ließen die Räumlichkeit pflegeleicht erscheinen. Der sterile Charakter des Saales verstärkte den Eindruck, dass es sich bei dem großzügig gestalteten Raum eher um ein riesiges Labor zu handeln schien, als um einen etwas zu groß geratenen Wohnraum, der nur für normale Zwecke genutzt wurde. Dafür sprach auch sein Mobiliar. Der Saal wirkte abweisend und kalt.

 

Metallvitrinen, deren Türen mit Milchglas versehen waren, standen an den Wänden und verbargen ihren Inhalt vor neugierigen Blicken. In Reihen neben- und hintereinander standen kleine, fahrbare Wägelchen aus grau gestrichenem Metall, in denen Körbe, die aus einem besonders dicht geflochtenen Material bestanden und eine rechteckige Form besaßen, eingehängt waren. Die Körbe schienen wasserdicht zu sein, denn die weißliche Flüssigkeit, mit der sie zum Teil bis zum Rand gefüllt waren, lief nicht aus.

 

Ein großer Holztisch, die Tischplatte mit Metall beschichtet, stand dominierend in der Mitte des Saals und lenkte fast zwangsläufig das Auge auf sich. Boney fühlte sich von dem, was auf der Tischplatte lag und das entfernt an einen großen Erdklumpen erinnerte, magisch angezogen. Neugierig trat sie näher heran und beäugte, noch immer mit ihrem Baby im Arm, das bizarre Ding...

 

Der Klumpen sah aus, als wäre ihm jegliche Flüssigkeit entzogen worden. Von einem plötzlich aufkeimenden Forschungstrieb gepackt, starrte sie fasziniert auf den zusammengeschrumpelten Klumpen aus: was auch immer. Das eigenartige Gebilde wies neben faltenartigen Aufwerfungen, kleineren und größeren Löchern auch Spalten auf, deren tiefe Schatten es nicht zu ließen, in sein Innerstes zu sehen. Das ganze Ding wirkte so porös wie ein alter Bimsstein und schien so furztrocken zu sein, wie es nur ein Schwamm sein konnte, den man lange nicht benutzt hatte.  Sie konnte es nicht lassen und pikste mit ihrem spitzen Zeigefinger mitten hinein in das merkwürdige Objekt.

 

Ein zischendendes Geräusch erklang, als würde der Klumpen überschüssige Luft ablassen, ganz ordinär ausgedrückt: Er schien zu furzen. Das Mädchen wich erschrocken zurück, drückte den Säugling noch fester an sich. Plötzlich gab es einen lauten Knall, wie bei einer Explosion, aus dem Inneren wurde ein gräuliches Pulver in einer Staubwolke ausgestoßen, durch die Luft geschleudert - und als Boney dachte, das wäre es schon gewesen, gab der mysteriöse Erdklumpen seine restlichen noch verfügbaren Gase frei. Eine Geruchsglocke schien sich über den Tisch, Boney und das Baby zu stülpen. Es stank zum Gotterbarmen.

 

Sie stöhnte laut auf und hielt sich angewidert ihre freie Hand vor die Nase. Selbst das blaue Pony, das etwas abseits stand und sehr interessiert den Inhalt eines Korbwagen betrachtet hatte, rang schon bald nach frischer Luft. Ohne groß zu überlegen stürmte sie der Tür entgegen. Wären die Ratten nicht draußen gewesen, wäre sie in ihrer Not vermutlich lieber zu einem der Fenster gestürzt und hätte es weit aufgerissen, nur um ihre Nase nach draußen zu halten und ihren misshandelten Geruchssinn zu beruhigen. So aber suchte sie die Hilfe des kleinen Pferdes, nur um dann gemeinsam mit ihm in wilder Panik vor der sich ausbreitenden Duftwolke zu flüchten und ihrem bestialischen Gestank zu entkommen. Ihre Flucht dauerte nicht lange. Sie endete in einer Ecke des Saales und führte die beiden in die Nähe der Tür, durch die sie den Raum erst vor kurzer Zeit betreten hatten, zurück. Sie versuchten so flach wie möglich zu atmen und hofften inständig, dass sich die stinkende Pestilenz so schnell wie möglich wieder verziehen würde.

 

Auch dem Neugeborenen schien der Geruch nicht zu behagen. Es greinte wieder leise vor sich hin, schnappte gierig nach Luft, versuchte Sauerstoff in seine Lungen zu pumpen, begann zu husten und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Gutmütig schob sie dem Winzling ihren kleinen Finger in den Mund und hatte schon ein Liedchen auf den Lippen, um es zu beruhigen. Begleitet von einem spitzen Schmerzensschrei entzog sie ihren Finger dem Kind aber sofort wieder. Nach Singen war ihr auch nicht mehr zumute. Das Neugeborene hatte sie gebissen. Ungläubig starrte sie auf ihren blutenden Finger und blickte dann mit grenzenlosem Staunen auf das winzige Bündel. Was für ein hinterhältiger Balg!

 

Vorsichtig geworden, begann sie ganz behutsam, die winzigen widerstrebenden Lippen auseinander zu schieben. Sie sog die Luft scharf ein und bekam gleich darauf einen heftigen Hustenanfall. Sie hatte den Gestank vergessen. Ihr wurde schlecht von dem üblen Geruch, den sie zu maßlos eingeatmet hatte. Nachträglich belehrt, versuchte sie wieder flacher zu atmen und konzentrierte sich dann erneut auf das Baby.

 

Das Neugeborene verfügte über ein vollständiges Gebiss. Obwohl das nicht ganz richtig war, denn es hatte keine einzelnen Zähne im Mund, sondern im Ober- und Unterkieferbereich befanden sich zwei blitzweiße, durchgehende Kauleisten, die mit kleinen scharfen Widerhaken versehen waren. Das Neugeborene öffnete für einen kurzen Moment die Augen und schielte sie scheel von der Seite an. Dann verzog es sein winziges Gesichtchen, zu einer durchaus als hämisch einzustufenden Miene. Dem Mädchen lief eine Gänsehaut über den Rücken. Was schaukelte sie da in den Armen? Ganz aus dem Konzept gebracht, hielt sie das winzige Bündel weit von sich und betrachtete es böse.

 

"Was war das vorhin auf dem Tisch", krähte sie hilflos und bemerkte, dass sie in ihrem verwirrten Zustand laut gesprochen hatte. Sie hatte durch ihre neuerliche Entdeckung die Explosion fast vergessen gehabt, vermutete aber nun, dass das Baby, das mehr als ein unschuldiges Kind zu sein schien und das Gebäude, in dem sie sich befanden, mit seinem Labor, dass diese gesamte Plantage ein Geheimnis zu verbergen hatte.

 

"Hättest du mich vorhin an dem Gartentor erzählen lassen, so wüsstest du es jetzt", erwiderte das blaue Pony sarkastisch.

 

"Ach, nun lass dich nicht so lange bitten." Boneys Arme wurden langsam schwer, weil sie das Neugeborene immer noch weit von sich gestreckt hielt und dabei argwöhnisch betrachtete.

 

"Willst du dieses Ding nicht endlich einmal weglegen", knirschte das blaue Pony zwischen seinen Zähnen hervor.

 

Das blaue Pony hatte recht. In den Armen wollte sie es nicht mehr halten und so beschloss sie, den Säugling erst einmal auf dem Holzfußboden abzulegen. Ihre Zuneigung zu diesem scheinbar doch nicht so unschuldigen Wesen hatte beträchtlich gelitten. Boney bereute es inzwischen schon, dass sie den Wurm überhaupt aufgelesen hatte. Der Gesundheitszustand und die Nahrungsfrage des Babys schienen vorerst vergessen - noch lebte es ja und so schlecht schien es ihm auch nicht zu gehen, denn fest zubeißen konnte es jedenfalls. "Erzähl doch", drängte sie das blaue Pony.

 

Das kleine Pferd holte tief Luft und begann dann, eine ganz und gar unglaubliche Geschichte zu erzählen.

 

Neugierig geworden?

                                   

                                                -------------

 

Brave Boney. Liebe Boney. Einmal würde sie nicht genau das machen, was man von ihr verlangte. einmal, nur ein einziges Mal wollte sie so richtig unartig sein. Schließlich war sie bald erwachsen und dann wäre es auch um den letzten Rest von Spaß geschehen. Sie musste ihre Chance nutzen. Sie würde sich das beste Versteck erobern. Keiner würde sie finden. Alles andere war langweilig.

 

Auch das Spiel war langweilig. Alles wiederholte sich. Kevin würde die anderen Freunde wie gewöhnlich ziemlich schnell entdecken und damit wäre das Spiel auch schon vorbei. Vielleicht gäbe es noch einen zweiten, oder eventuell sogar einen dritten Durchlauf. Aber es würde längst nicht so wie bei dem Ersten sein, weil die Suchenden wechselten und Kevin nun einmal der schnellste war. Der schnellste Läufer und der gewiefteste Finder von guten Plätzen. Sprich, nach diesem ersten Spiel würde der Kampf um die Verstecke nur noch härter werden, weil Kevin dann bei dem aktiven Spiel dabei wäre. Wenn sie aber gleich zu Anfang von der Bildfläche verschwand, würde sich Kevin tüchtig anstrengen müssen, um sie zu finden. Sie lachte schadenfroh. Der flinke Junge würde sich an ihr die Zähne ausbeißen.

 

Boney lief auf den dunklen Waldabschnitt, diesen dunklen Moloch zu, sah seine Schwärze, die sie überholt hatte, ihr vorauseilte und die nur auf sie zu warten schien, und das Herz rutschte ihr in die Hose. Zögerlich schlüpfte sie durch eine klaffende Lücke zwischen zwei Büschen, die sich scheinbar nur für sie aus dem Nichts geöffnet hatte und verschmolz mit der Dunkelheit des Waldes. Äste und Zweige, die sie aufhalten wollten, die sie kratzten, Dornen, die sie stachen. Dahinter war Platz. Eine winzige Schutzzone inmitten der Wildnis. Notgedrungen blieb sie stehen, fest verschweißt mit der Natur und schöpfte nach Atem. Ihr ganzer Körper juckte. Sie hielt Ausschau nach Spinnen, sah aber nur ihre Netze. Mit obskur anmutenden Bewegungen versuchte sie, ihre langen Haare aus den Fängen des Buschwerks zu befreien. Von dem kleinen Kampf war sie schon bald erschöpft. Der Schweiß stand ihr bereits auf der Stirn. Vor sich sah sie die schwarzen Schatten der dicht beieinanderstehenden Bäume und ein weiteres vermeintlich undurchdringliches Gestrüpp. Sie schluckte ergeben, weigerte sich aber, gleich zu Beginn ihres ersten richtigen Aufstandes die Flinte ins Korn zu werfen. Mit einem Stoßseufzer machte sie sich wieder ans Werk und zwängte sich mit viel Mühe durch den nächstbesten, ebenso widerspenstigen Abschnitt. Erneut merkte sie sehr schnell, dass vor dem Lohn der Schweiß stand. Wäre sie doch nur auf der Lichtung geblieben.

 

Es war ein außerordentlich unfreundlicher Waldabschnitt, den sie sich ausgesucht und betreten hatte. Sie schnaubte vernichtend und fühlte sich persönlich angegriffen, weil man ihr das Leben so unnötig schwer machte. Ja, sie war tödlich beleidigt, weil man ihr den Anschein vermittelte, dass man sie hier nicht wollte. Auf dieser Seite des Waldes wucherte das Buschwerk, als hätte man es noch zusätzlich gedüngt. Es erschien ihr immens dicht und viel gesünder, kräftiger regelrecht in seinen Säften schwellend und beinahe wie von einem eigenen Willen beseelt, als das was sie auf der anderen Seite, auf der Seite von der sie gekommen waren, kennengelernt hatte. Reine Wildnis sollte sie auch weiterhin umgeben und machte ihr das Leben schwer. Immer wieder blieb ihr Haar an Zweigen hängen. Diese Verbindung riss ihren Kopf gewaltsam mit einem schmerzenden Ruck in den Nacken, noch während sie vorwärts schritt. Sie ließ Haare. Mehr als eine Strähne blieb als Opfergabe zurück.

 

Je tiefer sie in den Forst eindrang, umso mulmiger wurde dem Mädchen zumute. Das unbekannte Terrain, der dunkle Wald, den sie nicht kannte, die lastende Stille um sie herum - kein Vogelgezwitscher, keine Buchfinken, keine Tauben und seltsamerweise auch keine anderen tierischen Laute - nur jene Geräusche, die sie selbst verursachte, waren zu vernehmen und diese Tatsache flößte ihr Furcht ein. Spielende Kinder waren nicht leise, das war gegen ihre Natur, aber kein noch so ausgelassener Jauchzer oder gefälliges Johlen drang von der Lichtung zu ihr hinüber. Boney spürte einen Kloß im Hals, der immer mehr an Größe zunahm. Der unheimliche Wald hatte sie förmlich verschluckt.

 

"Kehr um. Geh zu den anderen zurück. Noch ist es Zeit und nicht zu spät", hörte sie es überlaut in ihrem Kopf dröhnen. Doch sie gab ihrer inneren Stimme, die sie so nachdrücklich mahnte umzukehren, nicht nach - und so kämpfte sie sich schon fast in kriegerischer Verbissenheit immer weiter durch das Gehölz. Ja, wenn sie wollte, konnte Boney einen gehörigen Dickkopf ihr eigen nennen - auch gegen sich selbst war sie unerbittlich. Und dieses Mal konnte sie wirklich Stolz auf sich sein. Erfolgreich widerstand sie der kleinlichen Stimme in ihrem Inneren und rang um jeden weiteren Meter Boden. Sie hatte sich schon ein ansehnliches Stück in den Wald hineingearbeitet, als es passierte.

 

                                               -------------------

 

 ...  und weiter geht es - mit einem anderen Abschnitt aus dem Buch:

 

Es ist lange her. Es ist schon so lange her, dass es mir Schwierigkeiten bereitet und ich schon angestrengt nachdenken muss, um mich noch an alles, was damals geschah, genau zu erinnern, und um nicht Traum und Wirklichkeit zu vermischen. Aber wenn ich mich nicht verrechnet habe, liegt es 127 Jahre zurück, dass ich, als eins von vielen anderen Ponys in der Grube in tiefster Dunkelheit, bis zum Umfallen gearbeitet habe. Ich war ein Grubenpony und ich war blind - wie die meisten von uns, denn das Tageslicht hatte ich als Fohlen zum letzten Mal gesehen.

 

Wir hatten ein schweres Leben. Jeder neue Tag brachte uns erneute Quälerei. Die Loren, die wir ziehen mussten, waren so unendlich schwer. Sie quollen von dem Gestein, das die Menschen aus dem Berg geschlagen haben, fast über. Staub von den Steinabschlägen erfüllte die zugigen Schächte, drang in unsere Bronchien, in unsere Lungen, und auch in die der kleinen und großen Menschen, brachte uns allesamt zum Husten. Unfälle - auch tödliche - passierten jeden Tag.

 

Doch die Ponys, die nichts anderes kannten, die man sowieso nicht fragte, weil sie eben nur Tiere waren, und auch die armen Menschen, die arbeiten mussten, um ihre Familien durchzubringen, jedoch wenigstens hin und wieder das Tageslicht erblicken durften und scheinbar eine andere Wahl hatten, vornehmlich aber die jüngeren Kinder, die für die Stahltüren zwischen den Gängen verantwortlich waren und diese öffneten und schlossen, im Dunklen hockten, vor sich hindämmerten und warteten bis sie gebraucht wurden und so langsam in der Finsternis stumpfsinnig geworden waren, der Lethargie erlagen, waren in dieser grausamen Wirklichkeit eins, waren ein Teil der Maschinerie - ein winziger Teil eines Räderwerk, das zu funktionieren hatte. Sie alle wussten von der lauernden Gefahr, wussten von den Krankheiten, wussten von dem plötzlichen und dem schleichenden Tod und sie alles lebten mit ihm, um nicht zu verhungern.

 

Was machte es schon, wenn die zarten Atemwegorgane der Kinder erkrankten, ihre Muskeln verkümmerten, sie nur zögerlich wuchsen, und wenn sie wuchsen, sich ihre Wirbelsäulen krümmten, ihnen ab und zu die Decke über den Köpfen zusammenbrach, weil die Stollen nur unzureichend mit Balken abgestützt und somit gesichert waren, oder wen störte es schon, wenn sie bei Gelegenheit von den schweren Loren an die Wand gequetscht wurden und man ihre zerschlagenen Körper nur noch von der Stollenwand abkratzen konnte. Was machte es schon, wenn eines der Ponys vor Enträftigung vor seiner Lore zusammenbrach und mit verrenkten Gliedern in der Dunkelheit verreckte und was machte es, wenn ein Gang zusammenbrach und gleich einige Dutzend Männer und Frauen unter sich begrub.

 

Mensch und Tier hatten sich schon vor langer Zeit ihrem Schicksal ergeben. Sie waren ohne Weiteres austauschbar, wie jeder andere in dem unterirdischen Reich auch, denn diese Arbeitsplätze waren begehrt, weil sie oft die einzigen waren, die überhaupt in jener armseligen Gegend angeboten wurden. Hunger und Not waren eine entscheidende Triebfeder, ein unliebsamer Gefährte. Menschen und Tiere konnte man ersetzen. Wer von den Menschen nicht mit den Wölfen heulte, war ein Aufwiegler und flog. Bei einem Grubenpony, das die Arbeit verweigerte, vielleicht sogar vor lauter Verzweiflung um sich biss, oder gar die Hufe gebrauchte, rief man gleich den Abdecker.

 

Unsere Gesundheit, unser aller Leben - egal ob Mensch oder Tier - war dem Grubenbesitzer egal. Diese Güter zählten nichts in der Unterwelt. Der Profit war der Herrschaft wichtiger - nur der Ertrag der Grube war in Münzen messbar. Ich hörte zwar von anderen Gruben, in denen es anders zugehen sollte, doch ich konnte es nicht glauben.

 

Doch eines Tages, ich weiß nicht mehr, ob es am Tage oder in der Nacht geschah, weil wir in Schichten arbeiteten und ich schon vor langer Zeit den Überblick verloren hatte, stürzte diese unterirdische Welt in sich zusammen, begrub Mensch und Tier gleichermaßen unter Geröll und Staub und bereitete ihnen ein kostengünstiges ewiges Grab.

 

Ich weiß ganz gewiss, dass ich tot war, anders kann es sich gar nicht verhalten haben, denn ich fand mich unter einem großen Felsbrocken wieder als ich erwachte und so etwas überlebt auch kein Grubenpony. Finsternis war um mich, eine unheilvolle Stille. Der Staub hatte sich längst gelegt, also musste einige Zeit vergangen sein. Ich konnte mich nicht bewegen, war aber hellen Verstandes.

 

Ich lag auf der Seite. Der große Felsbrocken auf meinem Bauch drückte und presste mir die restliche Luft aus den Lungen, die vielen kleineren schienen mein Rückgrat zerschmettert zu haben und stachen mir in den Pelz. Ich konnte meine Beine nicht bewegen. Ich konnte mich gar nicht bewegen, weil ich durch die schwere Last auf dem unebenen, steinigen Boden wie festgenagelt schien.

 

Zeit musste verrinnen, das wusste ich. Sie würden die Grube wieder öffnen und die Kohle fördern. Vielleicht würden sie den Abschnitt nicht mehr benutzen, in dem das Unglück geschah, doch sie würden das Erz weiter aus dem Berg schlagen, alle Jahre danach die da folgen würden. Ich sah die Gegenwart nicht und auch an der Zukunft nahm ich nicht teil. Ich sah meine Welt nur, wie sie zu meiner Zeit gewesen war, blieb in der Finsternis gefangen.

 

Der Schmerz war weit weg. Hunger und Durst verspürte ich nicht. Ich dämmerte dahin und ich weiß nicht, wie viel Zeit ich in meinem einsamen Grab zugebracht habe.

 

Ich träumte viel, sah mich wieder als Fohlen über eine weite grüne Wiese jagen - ein Grün, das ich längst vergessen glaubte, sah meine Mutter, trank süße Milch aus ihrem Euter, spürte ihre Wärme, den Puls in mir - das Leben pochte und klopfte. Ich sah Bäume, lange stumme Wesen, verschrobene Gesellen, deren Blätter ab und an im Winde sangen, die mir aber ihren kühlen Schatten großmütig spendeten. Ich sah das Blau des Himmels, sah Vögel aus dem schützenden Geäst meines Baumes auffliegen, in dieses tiefe unendlich erscheinende Blau aufsteigen, sah die fliegenden Federbälle zwischen Schäfchenwolken verschwinden.

 

Aus diesen Träumen erwachte ich von Zeit zu Zeit, spürte für einen Moment meinen alten zerschundenen Körper und vergaß ihn wieder, denn nichts erschien mir zu diesem Zeitpunkt wichtiger als das Träumen. Ich wurde immer dünner, bestand nur noch aus Haut und Knochen, war ein zum Skelett abgemagertes schrundiges Frack in einem viel zu großen, verlausten, ehemals weißen Pelz. Auch der Felsbrocken schien von mir genug zu haben. Er grummelte, rollte von mir hinunter - gab mich nach einer halben Ewigkeit frei.

 

Ohne Hunger und Durst zu verspüren, kämpfte ich mich über das Geröll, arbeitete mich durch den Schutt, gelangte in einen der unbeschädigten Gänge. Mit wirren Gedanken belastet irrte ich durch die Einsamkeit der Stollen, wenn es sein musste, quetschte ich mich durch einen Spalt, drängelte mich zwischen den eisernen Türen hindurch und war doch nur auf der Suche nach dem Licht. Kein Mensch und kein Tier begegnete mir auf meinen Irrwegen, die unterirdische Welt, in der ich gefangen war, schien wie ausgestorben.

 

Irgendwann, dem Wahnsinn schon sehr nahe, bemerkte ich ein LIcht. Ich strebte darauf zu, erreichte es aber nie. Es dauerte sehr lange, bis ich endlich bemerkte, dass es nur der Abglanz meines eigenen Lichtes war, dem ich folgte. Ich hatte mich verändert und leuchtete nun selber, wie ein gerade entzündetes Gaslicht.

by Gabriele Napierata ©

 

 

 

Gabriele Napierata
Burgennacht by Gabriele Napierata, Illustration aus Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Wind im Nebel

©2014

Gabriele Napierata
Die rote Treibsandwüste und ein verhängnisvoller Fehler by Gabriele Napierata. Illustration aus Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Wind im Nebel.

©2014

Gabriele Napierata
Dr rote See und sein Hüter by Gabriele Napierata. Illustration aus Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Wind im Nebel.

©2014

Gabriele Napierata
Wieder unter der Erde by Gabriele Napierata. Illustration aus Drachenkristall und Himmelsschlüssel, Band I, Wind im Nebel.

©2014