Gabriele Napierata

 

Das rote Auto und die Christbaumkugeln

 

Der letzte Schnee schmolz, rutschte von Dächern auf ahnungslose Passanten und sorgte für nasse Krägen und den einen oder anderen Dachschaden. Lustig rannen Wassertropfen über Scheiben, bildeten Rinnsäle – winzige Bäche, und tropften auf den Boden. Jede Pfütze war ein willkommenes Geschenk für dahin eilende Kinder, bewaffnet mit Gummistiefeln und roten, ebenso tropfende Nasen, traten sie ein in diese von der Natur geschaffene Gabe, dass es nur so spritzte und vergaßen für Momente ihre Ungeduld auf andere Geschenke.

 

Der Winter schlief und auch das zu erwartende Weihnachtsfest schien durch den Wärmeeinbruch in die Ferne gerutscht zu sein. Zwei Wochen noch bis um heiligen Fest und doch klopfte der Frühling an die Tür und die Menschen ließen ihn hinein. Es geschah etwas. Das Auto in seinem geduldigen Rot stand noch dort, an Ort und Stelle. Immer noch und vom Schnee fast befreit. Im Nachhinein besehen, konnte niemand mehr sagen, wie lange es dort stand. Auch die Verkäuferin erinnerte sich nicht mehr daran, wann ihr das erste Mal der rote Wagen aufgefallen war. Es war ein großer Platz vor dem Supermarkt und hin und wieder standen dort auch Autos über einen längeren Zeitraum, bis diese abgeholt wurden von den Besitzern oder von Abschleppwagen, veranlasst von der Marktleitung. Dieses Auto jedoch hatte sich auf einen längeren Besuch eingerichtet, von den Ereignissen überrollt, vom Schnee bedeckt, schien es sich zurückgezogen zu haben aus dieser Welt, bis das Wetter umschlug.

 

 

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Wochen, vielleicht Monate waren vergangen und niemand hatte sich um das rote Auto gekümmert. Doch jetzt geschah etwas. Immer mehr, immer schneller schmolz die schützende Schicht. Die Strahlen der Sonne waren sehr gewissenhaft, verschenkten sich und gaben doch noch mehr als ihre Wärme. Trübe Gemüter wurden erhellt und selbst den Sonnenunlustigsten drängte es nach draußen, um auch dieses Geschenk zu genießen. Winter, gar Kälte waren in das Land der Vergessenheit gerückt. Der Park füllte sich mit Sonnenhungrigen, der Platz vor dem Supermarkt war fast leer, denn fast kein Mensch dachte bei dem herrlichen Wetter an Einkaufen. Der Gedanke an Arbeit wurde verdrängt, die Pausen waren viel zu kurz. Für diejenigen, die sich wieder unter das Joch der Mühe begaben, blieben nur die sehnsuchtsvollen Blicke Richtung Fenster oder Türe. Doch die im Park genossenen Pausenbrote quollen nicht mehr aus Tupperschalen, welkende Salate wurden nicht gegessen, Zeitungen nicht gelesen und auch die Handys schwiegen an diesem Tag für eine kleine Weile. Es tropfte weiter, doch keiner nahm Anstoß an diesem Umstand. Die Sonnenstrahlen gaben alles Preis. Ja. Etwas geschah. Es geschah auf dem Platz vor dem Supermarkt. Nun fast befreit vom Schnee stand das rote Auto, als Farbtupfer auf dem großen Platz, eine Türe geöffnet und gab den Blick frei auf das dunklere Innere im vorderen Teil des Wagens und auf zwei zappelnde Beine, zwei Füße, die mit der Leere zu kämpfen schienen.

 

Geliebt vom Vater, weil er es liebte, verhasst von beiden Söhnen, weil sie es nicht oft genug fahren durften, geschätzt von der Mutter, weil es ein Beförderungsmittel – ein Lastenesel war, willkommen von der Tochter, weil es da war, stand es dort und begann sich zu offenbaren.

 

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Die geöffnete Türe blieb offen stehen, die zappelnden Beine und Füße waren verschwunden, ein lautes Quietschen verriet, dass sich eine der Türen auf der anderen Seite des Wagens geöffnet hatte. Der Schnee schmolz weiter. Das Bild vom roten Auto änderte sich je, als ein Rotschopf am Heck des Wagens auftauchte und sich am Kofferraum zu schaffen machte. Da reagierte die Verkäuferin. Ihr Ziel im Visier eilte sie über den Parkplatz. Die wenigen Autos, die dort standen, waren schnell passiert, sie sah nur das Mädchen, das immer noch am Kofferraum stand, leicht nach vorne gebeugt, ihr den Rücken zukehrend. Was machte das Mädchen da? Am nächsten Morgen sollte der Wagen abgeschleppt werden. „Was tust du nur?“, herrschte sie das Mädchen an, das immer noch am Schloss des Kofferraumes ruckelte. Es wurde sich kurz umgedreht, ein Gesicht wandte sich der Verkäuferin zu. Auf ihre Frage erntete die Verkäuferin einen anklagenden Blick. Die blauen Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen, doch es antwortete nicht. Das Mädchen drehte sich um, setzte ihre Bemühungen fort den Kofferraumdeckel zu öffnen. „Das ist nicht dein Auto. Du handelst dir nur Scherereien ein.“ Das Mädchen ruckelte weiter am Schloss des Kofferraumes. „Sage mal, was fällt Dir ein?“ Der Kofferraumdeckel hob sich. „Wie hast du ...?“ Da sah die Verkäuferin den Schlüssel in der Hand des Mädchens aufblitzen. „Du hast einen Schlüssel?“ Verwundert starrte die Verkäuferin auf das blitzende Ding in der Hand des Mädchens. Das Mädchen schwieg weiterhin, bückte sich und tauchte ein in die Dunkelheit des Kofferraumes. Ebenso plötzlich erschien der Rotschopf wieder. Als er sich umwandte, sah die Verkäuferin die Augen des rothaarigen Mädchens aufleuchten. Das Mädchen hielt eine Schachtel in Händen, sehr bedacht darauf, als beherberge es ein kostbares Gut.

 

 

 

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„Warum sprichst Du nicht mit mir?“ Die Ungeduld schwang in der Stimme der Verkäuferin mit, noch mehr als zuvor. „Du kannst doch nicht einfach an ein fremdes Auto gehen.“ Da erinnerte sie sich wieder an den Schlüssel in Händen der Rothaarigen. „Wer bist du überhaupt?“ Wieder wandte sich das Mädchen der Verkäuferin zu. Es blickte die Frau an, öffnete die Lippen, sprach aber nicht und schon schloss sich der Mund wieder. „Lass’ mich doch mal sehen“, die Forderung wurde ohne Reue von der Verkäuferin in den Raum gestellt. „Was hast du da?“ Sie griff nach der Schachtel, griff ins Leere. Das Mädchen war schneller gewesen, glitt zurück zum roten Auto, als biete es Schutz. Dann überlegte es sich und zögernd zeigte es seine Beute dann doch. Die Schachtel war alt, aus Pappe. Alleine der Deckel der Pappschachtel hätte Geschichten erzählen können, hätte er sich der menschlichen Sprache bemächtigen dürfen. Von Flecken übersät, von Rissen gezeichnet, sprach er dennoch auf seine Weise von einem bewegten Leben. Doch war es nicht die Schachtel, die das Mädchen zu schützen versuchte. Der Deckel wurde angehoben. Es blitzte in der Sonne auf. Acht Christbaumkugeln lagen in ihrem Bett, ausgekleidet mit Seidenpapier und hätten dort noch Ewigkeiten, von der Welt nicht bemerkt, in der Schachtel verbringen können. Sehr zerbrechlich sahen sie aus, aus Lauscherglas vermutlich. Bunt, glänzend und so zerbrechlich, scheinbar mit weißem Zuckerguss versehen, mit kleinen Bildchen von Engeln und Weihnachtsmännern, Weihnachtsbäumen und einem Stern verziert. Alle Acht waren hübsch anzusehen und allesamt waren sie ohne Frage sehr, sehr alt.

 

Später, als das Mädchen im Büro des Marktleiters saß und immer noch kein einziges Wort gesprochen hatte, aber in die Schachtel der Christbaumkugeln schaute, als müsse es denen da drinnen ein

 

 

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Geheimnis abringen, dann aufblickte, hinüber zum Fenster sah, nahm es das Bild jenseits des Fensters erst bewusst wahr. Die Rothaarige schluckte, wollte nicht weinen, weil sie schon zu oft geheult hatte. Durch Weinen wurde nichts besser. Sie musste das Lachen wieder lernen, musste üben wieder Freude zu empfinden. Diese Christbaumkugeln waren ein erster Schritt. In ihnen sah sie sich und sie sah auch die Vergangenheit von sich abgleiten. Sie sah durch das Fenster und sah die Ruine, ehemals ein gut besuchtes Kaufhaus, ein riesiger Komplex – Laden an Laden, aber das war einmal. Jetzt standen dort nur Fragmente, einzelne Wände, Säulen, Drähte aus Stahl ragten in den Himmel, schienen auf etwas zu deuten. Teile vom Dach wurden gehalten, deuteten in die entgegen gesetzte Richtung und alles war abgesperrt – von der Welt weggesperrt. Und doch sah man das Mahnmal. Es war nicht Rot, wie das Auto dort draußen auf dem Platz vor dem Supermarkt, welches in seiner Auffälligkeit so unauffällig war. Das Ding würde morgen irgendwann abgeholt werden, hatte die Verkäuferin gesagt. Ihre Eltern würden damit nicht mehr fahren können, ihre Brüder sich nicht mehr streiten, wer es sich ausleihen dürfte. Ihre Familie hatte man vernichtet, nur sie war übrig geblieben.

 

Wie verrückt musste man sein, um sich selbst in die Luft zu sprengen? Konnte das tatsächlich ein Glaube anrichten? Durfte ein Glaube so etwas verursachen? Menschen wurden geblendet, veranlasst, andere Menschen zu verletzen, zu töten und brachten Unglück über die, die zurückblieben? Und der Gedanke lag so nahe. Wie aberwitzig, wie irrsinnig musste jemand sein, um so etwas zu vollbringen und dann noch darauf hoffen, dass ihn nach getaner Tat auf der anderen Seite ein besseres Leben erwartete? Wer glaubte denn an die Mär mit den 1000 Jungfrauen? Das konnten sich auch nur Männer ausgedacht haben.

 

 

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Das Mädchen lachte in sich hinein, doch kein Laut drang über ihre Lippen. Wer entschied, welcher Glaube der richtige war? Sollten Menschen diese Frage klären können? Sollten die Menschen so anmaßend sein – so vermessen sein und sich tatsächlich herausnehmen zu bestimmen, wer der richtige Gott sei? Würde das ein Gott überhaupt wollen? Nein, kein Mensch durfte das. Wir sind doch nur Menschen? Sie wollte nur Mensch sein dürfen, trauerte um ihre Familie, die man wegen eines Glaubens zerrissen hatte. Sie schaute wieder auf die Kugeln und dachte dabei an ihre Großmutter, die ihrer Tochter diese Kugeln vererbt hatte und sie dachte an sich, an die Enkelin, der sie nun in die Hände gelegt worden waren. Christbaumkugeln für einen Tannenbaum, der nun in einem Waisenhaus stehen würde. Sie dachte an die Großmutter, ihren Nachlass, die Testamentsvollstreckung, von der die Eltern und ihre restliche Familie kamen. Nur sie war nicht dabei gewesen, weil sie krank daheim im Bett lag. Sie dachte daran, dass ein Einkauf nach dem Besuch beim Notar das Leben ihrer Familie beendet und ihr Leben verändert hatte. Sie dachte daran, dass der Glaube eines Menschen alles vernichtet hatte, was ihr lieb und teuer gewesen war. Woran durfte sie glauben? Vorsichtig zog sie eine der Christbaumkugeln, die von einer roten Schleife gehalten werden konnte, aus ihrem Seidenbett. Das Mädchen schaute hinein und schluckte, erschrak ein wenig. Es sah nicht mehr die glänzende Kugel mit ihren Verzierungen, sondern es sah sich mit ihrer Familie, ganz wie es früher war, zu Weihnachten vor dem Christbaum sitzend. Beinahe hätte sie sich verraten, hätte angefangen laut zu singen. Doch niemand sollte hören, dass sie sprach, gar, dass sie singen konnte. Sie würde vielleicht stumm bleiben.

 

 

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Die Kugel zeigte wieder nur ihre Verzierungen, das niedliche Bildchen in ihrer Mitte und ganz klein ein Abbild eines anderen Gesichtes. Bald war Weihnachten. Auch wenn es draußen warm war wie im Frühling, der Winter würde zurückkehren, bald schon und mit ihm die Gedanken an das Weihnachtsfest. Die Menschen waren seltsame Lebewesen und ihr Glaube schon längst. Woran sollte sie glauben? Sollte sie an den Jungen im Heim denken? Sie hatte ihre Familie verloren, dafür gab es keinen Ersatz. Sie mochte ihn jetzt, am Anfang nicht. Doch nun war er immerzu in ihren Gedanken, schlich sich hinein und war nicht mehr fortzubekommen. Sie wusste nicht, ob sie das mochte und nun sah sie ihn auch noch als Abbild in seiner ganzen Schönheit auf der Christbaumkugel ihrer Großmutter. Sie hatte sich verliebt. Sie liebte ihn und das so kurz nach dem Tod ihrer Familie. Durfte das sein? Die Menschen waren seltsam. Sie brachten sich gegenseitig um und glaubten an verschiedene Götter, obwohl es doch nur der Eine war.

 

Weihnachten. Bald war Weihnachten. Auch so ein Glaube. Sie würde die glänzende Kugel ihrer Großmutter an den Baum im Waisenhaus hängen, der geschlagen worden war, um die Menschen zu erfreuen. Sie würde ihre Familie nicht sehen, aber sie würde ihn sehen wollen. Sind die Menschen nicht seltsam?

 

by Gabriele Napierata

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gabriele Napierata

The red car and the Christmas tree balls

The last snow melted, slipped from roofs to unsuspecting passers-by and caused wet collisions and one or the other roof damage. Water drops trickled over slices, formed streams - tiny streams, and dripped to the ground. Each puddle was a welcome present for children who had arrived, armed with rubber boots and red noses dripping as they were, and entered into this gift, created by nature, that spattered, and forgot their impatience for other gifts.

The winter slept and the expected Christmas festival seemed to have slipped into the distance as a result of the heatbreak. Two weeks until the holy feast, and yet the spring knocked on the door and the people let him in. Something happened. The car in his patient red was still there, on the spot. Still almost free from snow. In hindsight, no one could say how long it was there. Even the saleswoman did not remember when the first time she noticed the red car. It was a large square in front of the supermarket and there and there were also cars there for a long period until they were picked up by the owners or by towing vehicles, caused by the market management. This car, however, had arranged for a longer visit, rolled over from the events, covered by the snow, seemed to have retreated from this world until the weather changed.


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Weeks, maybe months had passed and no one had taken care of the red car. But now something happened. The protecting layer melted faster and faster. The rays of the sun were very conscientious, gave themselves away, and gave more than their warmth. Miserable minds were brightened, and even the most sunless man pushed him outside to enjoy this gift. Winter, even coldness, had entered the land of oblivion. The park filled with sunbathers, the square in front of the supermarket was almost empty, because almost no one thought of shopping during the wonderful weather. The idea of work was pushed out, the breaks were much too short. For those who went under the yoke again, only those long-awaited glances remained to the window or door. But the pausenbrote enjoyed in the park no longer swelled from tuppers, wilting salads were not eaten, newspapers were not read and even the mobile phones were silent that day for a little while. It dripped on, but no one took offense at this circumstance. The sunshine gave all the price. Yes. Something happened. It happened on the square in front of the supermarket. Almost free of the snow, the red car, opened as a paint on the large square, opened a door and gave a clear view of the darker interior of the front part of the car and two struggling legs, two feet that seemed to fight with emptiness .

Loved by the father because he loved it, hated by both sons because they were not allowed to drive it often enough, appreciated by the mother because it was a means of transport - a burden, welcome from the daughter because it was there, it stood there And began to reveal himself.


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The open door remained open, the fidgeting legs and feet had disappeared, a loud squeak betrayed that one of the doors on the other side of the car had opened. The snow continued to melt. The image of the red car always changed when a redhead appeared at the rear of the car and made a mess at the trunk. The saleswoman responded. Her aim in sight was she hurried over the parking lot. The few cars that were standing there quickly passed, she just saw the girl, still standing on the trunk, bending slightly forward, turning her back. What was the girl doing? The next morning the car was to be towed. "What are you doing?", She ruled the girl, still jerking at the lock of the trunk. It was turned around briefly, a face turned to the saleswoman. On her question, the saleswoman caught an accusatory look. The blue eyes of the girl filled with tears, but she did not answer. The girl turned around, continuing her efforts to open the trunk lid. "This is not your car. You're only dealing with shards. "The girl jerked on the lock of the trunk. "Tell me, what do you think?" The trunk lid lifted. "How did you ...?" Then the saleswoman saw the key flash in the girl's hand. "You have a key?" The saleswoman stared at the flashing thing in the girl's hand. The girl remained silent, bent down and dived into the darkness of the trunk. Suddenly the redhead appeared again. As he turned, the saleswoman saw the eyes of the red ...

Ein Foto auf dem ich einmal lache.

Aufgenommen am 07.11.2015

Gabriele Napierata


 Hier der Link für meine PowerPoint Präsentation.


https://youtu.be/c5ZEqE_XmC0









Kontakt:

Gabriele Napierata


gabriele-napierata@t-online.de


   

Niedersachsen

 

 

 

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